Von Walter Grupp und Rudolf Wagner.
„50, 200, 100“, nennt Jacques Graf de Lalaing seine „Eckdaten“. Alter: 50 Jahre, Größe: 200 Zentimeter, Gewicht, etwas geschummelt: 100 Kilogramm. Er liebt Zahlen, und da gibt es noch viele andere: im Jahre 1123 erwähnt eine Urkunde des Papstes Calistus II. erstmals „offiziell“ den Namen der Familie, die aber schon früher bestanden hat. Es sind wenige Adlige in Belgien, die heute den Stammbaum ihrer Ahnen so weit zurück verfolgen können wie der Präsident der Königlich Belgisch-Deutschen Gesellschaft.
Wir sind im aristokratischen „Cercle Royal du Parc“ in der Nähe der Place Flagey verabredet, wo die Tische festlich für vielleicht 60 Mitglieder zum Dinner eingedeckt sind. Aber wir sind allein. Der Corona-Virus hat das traditionelle gesellschaftliche Leben abgewürgt, die Prinzen, Grafen, Ritter und Honoratioren bleiben lieber zuhause, erst recht, wenn sie dem medizinischen Stand von altersbedingten Risikogruppen angehören. Auch für die Belgisch-Deutsche bedeutet Covid-19 einen dringenden Grund, die Ziele des Vereins zu überdenken und ihn zu erneuern. Eine ungemütliche Aufgabe für den Grafen de Lalaing, der noch andere Herausforderungen bewältigen muss.
Seine Neigungen für Mathematik und Physik und seine Sprachgewandtheit haben ihm, dem ingénieur civil, mit Auszeichnungen von international berühmten Studienstätten, in den USA. England und auch nach langjährigen beruflichen Erfahrungen in Deutschland die Gelegenheit geboten, als Manager start-ups im Bereich der Sonnenenergie für die belgische Industrie zu begleiten. Der coronabedingte Wirtschaftseinbruch brachte diese Aktivitäten zum Erliegen. De Lalaing ist jetzt nur noch einmal in der Woche in Brüssel. Er kümmert sich um sein Schloss in Zandbergen, das er für gesellschaftliche Anlässe öffnen möchte. Die Erwartung: Sanierungs- und Verschönerungsarbeiten am Gebäude lassen sich so finanziell leichter schultern. Und dann ist da noch eine verschüttete Burg auf seinem Grund, die er ausgraben will.
Gleich und gleich gesellt sich gern
Vor allem kann er sich wieder seiner Familie widmen, seiner Gattin Lavinia und den Söhnen Louis-George und Henri-Nicolas. Gräfin Lavinia von Waldburg zu Wolfegg und Waldsee hat Jacques de Lalaing in Deutschland beim Fürsten zu Wied kennengelernt. Es war eine Jagd oder ein Ball, jedenfalls eine Begegnung auf Augenhöhe, denn die Gräfin gehört dem deutschen Uradel an. Beide sind in zahlreichen sozialen Projekten engagiert und betreiben heute gemeinsam das Erholungszentrum Hof van Lier mit seiner Biolandwirtschaft. Wie viele Adlige gehören auch die de Lalaings zu einem weitverzweigten Netzwerk von Cousins und Cousinen in Europa, das die Mérodes, die Familien de Ligne, Croy, Lannoy oder Stirum und andere umfasst, wohl aber nicht die nur angeheiratete Bürgerliche und nun Witwe Gloria von Thurn und Taxis.
Die Strahlkraft des „blauen Bluts“ ist ungebrochen. Die einschlägigen Wochenzeitungen machen es uns vor. In Belgien wird genau unterschieden, wer zum Adel des „Ancien Régime“ zählt, wer also sein Adelsprädikat aus der Zeit vor der Französischen Revolution (1789 – 1799) erwarb. Und wer danach wie die Lalaings in den Adelstand erhoben wurde. Im Lauf der Geschichte wurden Familienmitglieder ungefähr 15mal der Orden vom Goldenen Vlies verliehen. Apropos: König Philippe erhebt in jedem Jahr verdienstvolle Bürger in den nicht-erblichen Adelsstand, die dann als Edelleute – eher von den niedrigen Rängen – mit prunkvollen Ernennungsurkunden punkten können. Auch wenn es dazu keine besonderen Privilegien mehr gibt.
„Wachsam und tapfer“
Gewiss muss niemand mehr wie im Mittelalter Ritterkämpfe bestehen, für den Lehnsherren das Leben einsetzen oder mit Rüstung und Schwert dem König in Kriegen dienen. De Lalaings Vorfahren waren wackere Recken, von denen ein zeitgenössischer Geschichtsschreiber lobend berichtet: „So ein treues, wachsames und tapferes Geschlecht wie die Lalaings findet man selten. Um ihren Herren zu dienen, sind fast alle im Krieg umgekommen.“
„Und wer ist Ihr liebster Ahnherr?“ Eine Frage, die den Grafen de Lalaing überrascht. Das habe er sich noch nie überlegt. Die Auswahl ist zu groß, um sich auf eine Person festzulegen. Da ist Urvater Jacques de Lalaing, an der Spitze der Dynastie, der wegen seiner Siege geadelt und als erster mit dem Orden vom Goldenen Vlies ausgezeichnet wurde. Im Kampf von Lokeren 1453 verlor er sein Leben; während einer Belagerung des Schlosses von Poucques (Poekje) in der Nähe von Gent zersprengte ihm eine Kugel die obere Kopfhälfte. War dieser Ahnherr, den man den „Guten Ritter“ nannte, das erste Opfer einer neuen Zeit, in der es Feuerwaffen gab und Kanonen Verwüstungen anrichteten? Er war jedenfalls „der letzte Ritter in der Familie. Ich liebe Umbrüche“, sagt de Lalaing, „und neue Technologien sind für unsere Entwicklung notwendig.“
Da ist dann der Onkel Jacques de Lalaing (1858-1917), Künstler und Menschenfreund, der fantastische Tierplastiken schuf, sich intelligent und geistreich jeder Gesellschaft anpassen konnte, und der im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem König, seinen Malerfreunden und der internationalen Bildungselite selbstverständlichen Umgang pflegte. Er war Direktor der Brüsseler Königlichen Akademie für Bildende Künste und stellte seine Werke in Brüssel, Paris, München, Saint Louis, Berlin und Venedig aus.
Als Elektrizität in die Städte einzog, feierte er das helle Licht. Jacques de Lalaing entwarf 1887 eine Straßenleuchte mit kämpfenden Tigern als Sockel. Das imponiert seinem Großneffen, aber er relativiert: „Ich habe auch musische Interessen“, schließt sich der heutige Chef des Hauses an, nicht ohne seine naturwissenschaftlich geprägten Bildungsjahre zu unterstreichen.
Die Antwort auf die Frage nach dem liebsten Ahnherrn lautet schließlich nochmals „Jacques“, diesmal ist der Großvater gemeint. Auch er hat die Zeitenwende zum 20. Jahrhundert miterlebt. Als Botschafter Belgiens am Zarenhof in Sankt Petersburg und als international geprägter Weltbürger bewegte er sich in einer Umgebung, die den Wunderheiler Rasputin mit seinen aufrührerischen politischen Gedanken bewundert und verachtet hatte. Er war dabei, als 1917 die Oktoberrevolution Russland verwandelte, und sah die Schrecken der beiden mörderischen Weltkriege. „Er war eine Persönlichkeit des Übergangs, dessen Leben die Zeit des ancien régime bis zu einem modernen Europa umspannte.“ Der Großvater starb 1968, in der Zeit der antiautoritären Studentenunruhen und des entstaubten politischen Neubeginns überall in Europa.
Botschafter bei Bokassa in Afrika
Die Erben de Lalaings wandten sich anderen Aufgaben zu. Vorbei die Zeit, als die letzten Vorfahren als Botschafter im Dienste des Königreichs standen. Josse de Lalaing (1927-2019) brach als erster mit der Familientradition. Er zog es vor, Geschäftsmann zu werden und sein Geld im Iran, Afrika, Japan und den Mittleren Osten zu verdienen. Nur einmal war er Botschafter, und zwar für Jean-Bedel Bokassa, dem Präsidenten und Kaiser der zentralafrikanischen Republik.
Wo kann der belgische Adel heute aktiv an der Gestaltung Europas mitwirken, wenn er nicht nur seine Vergangenheit rückwärts gerichtet verwalten will? Jacques de Lalaing kennt den Lebenslauf von Otto Habsburg-Lothringen, dem Sohn des letzten deutschen Kaisers, der Mitglied der österreichischen Volkspartei und Europaabgeordneter für die CSU war. Der hat seine volksnahen Vertreterschaften nicht als Anbiederung und tiefen Fall empfunden, sondern als Pflicht gegenüber – sagen wir: seinen Untertanen.
Diskussionen in der Coronakrise
In der Coronakrise argumentiert de Lalaing gegen verspätete, unkoordinierte Entscheidungen der Regierenden in Belgien und gegen die verbreitete Angst vor notwendigen Veränderungen in der Wirtschaft. Er will die Arbeitslosigkeit bekämpfen und sich für ein soziales Europa einsetzen, aber er sieht für sich keine Zukunft in einer Partei. „Wir haben zu viele Hauptquartiere, aber brauchen ein einiges Europa! Sehen Sie sich einmal eine zerstückelte Landkarte aus dem Mittelalter an!“
Es gibt in Belgien weit über 1000 adelige Familien mit einer fünfstelligen Zahl von Familienmitgliedern. Die Statistiken zum Vermögen des Adels sind beeindruckend: Nur 11 Prozent der 500 reichsten Familien in Belgien sind Mitglieder des Adels, aber diese halten mehr als 56 Prozent dieses Reichtums, angeblich 79,85 Milliarden Euro. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass viele der neuen Adelstitel wohlhabenden Unternehmern wie Frère, Colruyt, Janssen und Solvay verliehen wurden. Hat der belgische König in den letzten Jahrzehnten bei der Vergabe von Titeln reiche Bürger anderen vorgezogen? Wer nur an Vermögen denkt muss feststellen, dass Familien des alten Adels mit dem „jungen“ Adel nicht gleichziehen können; zwar besitzen sie immer noch immense Grundstücke, aber die meisten haben viel von ihrem historischen Reichtum verloren.
Vielleicht ist es nicht zufällig, dass zwei Vertreter des „alten“ Adels an die Spitze der beiden Brüsseler belgisch-deutschen Vereine gewählt wurden. Jacques de Lalaing führt die Königlich Belgisch-Deutsche Gesellschaft, die er zu einem europäischen Wirtschaftstreffpunkt machen möchte; Albert-Henri Graf de Mérode steht der Belgisch-Bayerischen Gesellschaft vor, deren Gründung historisch motiviert war. Die Erhaltung und zugleich Modernisierung der beiden Vereinigungen wird ihren Präsidenten, ihren Ideen und Verbindungen zugetraut. Zugleich sind sie Stellvertreter einer längst vergangenen Zeit, die uns die Gegenwart so nicht wiederbringen kann: es gibt den Traum von einer vergangenen Zeit, die man heute nur noch in Märchenbüchern wiederfinden kann. Oder in einem bunten Heft beim Frisör.
Zukunft mit Fragezeichen
Heute lähmt die Pandemie alle Initiativen. Und in beiden Vereinigungen fehlen junge Leute.
De Lalaing fragt sich, warum Covid-19 nicht schon längst entschiedener bekämpft wurde? Die Pandemie ist da, meint er, sie war vorhersehbar und wird nicht einfach weggehen, und wenn sie doch verschwindet, wird irgendetwas anderes kommen. Aber er will seine Hände nicht in den Schoß legen. Auf dem Familiengrund und -boden am Ufer der Dender gibt es einen umwaldeten Hügel, in dem Archäologen eine ausgebrannte Burg verortet haben. Die will er in den kommenden Jahren mithilfe der Universität Gent ausgraben. Das dauert Jahre und schafft Arbeitsplätze, sagt er.
Graf de Lalaing hatte bei seiner Aufzählung bewunderter Ahnen unwillkürlich die Frauen ausgelassen, die in historischen Wälzern keine Hauptrollen spielen. Sie hatten den Fortbestand der Familie zu sichern, das war es dann (meistens). Einer von ihnen gelang es, einen Spitzenplatz in den Annalen zu erlangen: Marguérite Gräfin de Lalaing, Ehefrau von Florent de Berlaymont. Mit seiner Unterstützung legte sie 1625 in Brüssel den Grundstein für das Kloster der „Damen von Berlaymont“. An der Stelle des heutigen „Berlaymont“, dem Hauptgebäude der EU, betrieb das Kloster ein Pensionat für junge Mädchen. Gräfin Marguérite de Lalaing wurde damit zur Namensgeberin des berühmtesten Gebäudes der Europäischen Institutionen, dem Berlaymont. Das Terrain wurde 1960 vom belgischen Staat gekauft, um das Berlaymontgebäude zu errichten.
Und noch ein städtebaulicher Hinweis: Die Deutsche Botschaft findet man in der rue Jacques de Lalaing.
Abbildungen :
- Wappen der Familie de Lalaing
- Jacques de Lalaing
- Versammlung des Ordens vom Goldenen Vlies
- Ahnherr Jacques, „Der gute Ritter“
- 1887 Fuß einer elektrischen Straßenlaterne, von J. de Lalaing
- Jacques de Laleing in einem TV-Gespräch
- Jacques de Lalaing vor Schloss Zandbergen mit DBG-Mitgliedern
- Marguérite Gräfin de Lalaing, Ehefrau von Florent de Berlaymont
Walter Grupp hat eine umfangreiche Familiengeschichte der de Lalaings verfasst, die sich vor allem auf mittelalterliche Quellen stützt. Der Text kann hier heruntergeladen werden.
Die Familie de Lalaing in der belgischen Geschichte. Ein Überblick.